Anne Wilson Schaef: Im Zeitalter der Sucht
Nach ihrem Buch „Co-Abhängigkeit. Die Sucht hinter der Sucht“ (> meine Buchbesprechung) geht Anne Wilson Schaef in dem nächsten Buch ihrer Grundthese nach, wir alle sind mehr oder weniger in Suchtbeziehungen verstrickt, so lange wir uns noch nicht von dem Suchtsystem emanzipiert haben.
Das Buch beginnt in der Einleitung mit der erschütternden Wahrheit:
Unsere Gesellschaft zerfällt mit beängstigender Geschwindigkeit. (S. 11)
Unsere Gesellschaft ist KRANK. Sie zerstört sich selbst. Und das ist typisch für jede Art von Sucht: Sie ist selbstzerstörerisch.
In ihrem ersten Buch „Weibliche Wirklichkeit. Frauen in der Männerwelt“ (1981) hatte Anne Wilson Schaef sich international einen Namen als feministische Wissenschaftlerin und Therapeutin gemacht. Sie geißelte dort das „White Male System“, das Gesellschafts-System des weißen Mannes. In diesem Buch „Zeitalter der Sucht“ identifiziert sie das patriarchalische System nun als SUCHTSYSTEM.
Es wird Zeit für eine Umbenennung. Was ich einst als Männliches System – Reaktives weibliches System bezeichnet habe, nenne ich nun das Suchtsystem. Dieses System … läuft dem wirklichen Leben zuwider. Das Aktive Weibliche System nenne ich heute das Lebensprozess-System. Dieses neue Konzept geht über den Männlich-Weiblich-Dualismus hinaus. (S. 19)
Mit anderen Worten: Es geht nicht um den Geschlechterkampf Mann gegen Frau, Frau gegen Mann. Denn auch abhängige Frauen („reaktives weibliches System“) sind Stützen der Männerwelt. Vielmehr: Auf der einen Seite stehen Männer und Frauen, die in das (männliche) Suchtsystem verstrickt sind und auf der anderen Seite Frauen und Männer, die dieses Suchtsystem verlassen haben und im Lebens-Prozess ein System der Lebensfreude aufbauen.
Was nun ist Sucht?
Sucht ist jeder Prozess, über den wir machtlos sind. Wenn wir Dinge tun und denken, die im Widerspruch zu unseren Werten und Vorstellungen stehen, und unsere Verhaltensmuster einen immer zwanghafteren Charakter annehmen, dann hat sie die Kontrolle über uns gewonnen.
(S. 25)Eine Sucht beherrscht eine Person und nicht umgekehrt – so lautet die Definition. (S. 142)
Süchte können „stoff- bzw. substanzgebunden“ sein (Alkohol, Nikotin, Kaffee, Drogen, Medikamenten-Missbrauch, …) wie auch „prozessgebunden“. Dazu gehören Geldhorten, Spiel-Sucht, Sex-Sucht, Arbeitssucht, Konsumsucht, religiöser Fundamentalismus.
Wenn so unterschiedliches Verhalten als SUCHT identifiziert wird, was ist dann das typische Modell für ein Suchtsystem? Anne Wilson Schaef benennt die Beziehungssucht als typisch für ein Suchtsystem.
In unserem Kulturkreis sind Suchtbeziehungen die Regel. Es sind „Klammer“-Beziehungen. Die beiden in sie verstrickten Personen sind der Überzeugung, ohne einander nicht mehr auskommen zu können. Sie verstehen sich als halbierte Menschen, die zusammenbleiben müssen, damit daraus ein ganzer Mensch wird. (S. 33)
Eine Suchtbeziehung stellt per definitionem eine fortgesetzte Eltern-Kind/Kind-Eltern-Beziehung dar.Sie kann nicht weiter gehen, wenn einer der beiden selbstständig oder endlich erwachsen wird und die Verantwortung für sich übernimmt (S. 35)
Der Kern des Suchtsystems sind arrogante Egozentrik und narzisstische Selbstbezogenheit. Hierzu ein längeres Zitat, das den Unterschied zwischen Suchtsystem und Lebensprozess-System auf den Punkt bringt:
Im Suchtsystem steht das Selbst (nicht das wahre, sondern das falsche = EGO, J.S.) im Mittelpunkt. Nichts und niemand darf es unbesehen und ungeprüft passieren, ohne mit ihm verglichen und vom Selbst so definiert zu werden, wie es seiner Wahrnehmung entspricht. Nur unter großen Schwierigkeiten – wenn überhaupt – vermögen die Menschen das Suchtsystem objektiv wahrzunehmen … oder sich in die Perspektive eines anderen zu versetzen. Sie wissen nicht, wie sie dies tun können; Lernprozesse können sie nicht vollziehen, da ihnen ihr Selbst im Weg steht und sie nicht fähig sind, es hinter sich zu lassen.
Im Lebensprozess-System stehen Beziehungen im Mittelpunkt. Wer sich dieses System zu eigen gemacht hat, lebt in einem stabilen Zustand, in dem er mühelos über die Grenzen seines Selbst hinauszugehen vermag. Schon aus der Philosophie wissen wir, das Wesen einer Beziehung liegt darin, daß sie unter Gleichrangigkeit stattfindet … Deshalb eröffnet uns jede neue Bezieheung die Möglichkeit, in sie als gleichwertiger Partner einzutreten. Menschen, die einander als ebenbürtig betrachten, machen es sich zur Gewohnheit, sich und andere zu sehen und die gegenseitigen Standpunkte zu respektieren. (S. 46)
In ihrem nächsten Buch „Die Flucht vor der Nähe. Warum Liebe, die süchtig macht, keine Liebe ist“ (1989) (>> meine Buchbesprechung) vertieft sie die Thematik der Suchtbeziehung und unterscheidet Sexsucht, Romanzensucht und Beziehungssucht.
Wie soll HEILUNG eines Suchtsystems möglich sein?
Die Genesung von einer Sucht läßt sich nur bewerkstelligen, wenn wir uns eingestehen, daß wir süchtig sind. Das Benennen unserer Realität ist ganz wesentlich für unsere Genesung. Solange die Einsicht fehlt, daß unser Verhalten, unter Denken, unsere Aktivitäten wirklich von einem Suchtprozeß in einem Suchtsystem bestimmt werden, haben wir niemals die Freiheit, uns für die Genesung zu entscheiden. Haben wir erst einmal etwas beim Namen genannt, bekommt das einem Bekenntnis gleich. Haben wir uns zu etwas bekannt, dann gehört es uns, geauso wie die Kraft, die wir ehemals auf diese Sache verwendet haben. Gewinnen wir dann unsere persönliche Macht zurück, können wir unsere Genesung in Angriff nehmen – auf keinen Fall vorher. … Es klingt paradox, und doch läßt sich unsere persönliche Kraft einzig und allein zurückgewinnen, indem wir unsere Machtlosigkeit eingestehen. (S. 148)
Fazit: Ich empfehle dieses Buch jedem, der an eigenen Süchten (mit geringerem oder größeren Erfolg) gearbeitet hat, aber intuitiv spürt, das dahinter noch etwas tieferes verborgen liegt: der eigentliche Suchtprozess. Jeder, der das Gefühl hat, keine Macht mehr über das eigene Leben zu haben, die Kontrolle zu verlieren, an Beziehungen zu scheitern, in einer selbstzerstörerischen Abwärtsspirale zu stecken, der findet in diesem Bch die Antwort auf die Fragen WARUM? und den Weg aus der Krise.
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Im Zeitalter der Sucht: Wege aus der Abhängigkeit
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